Grenzschichtdynamik und Schneeschmelze

Was passiert an der Grenze zwischen Schneedecke und den darüber liegenden Luftschichten? Wie verändert sich die Energiebilanz einer ausapernden Schneedecke? Um solche Fragen zu beantworten, untersuchen wir mit hochauflösenden Turbulenzmessungen die Wechselwirkung zwischen der Schneedecke und der Atmosphäre.

Die Wechselwirkungen zwischen Schneedecke und Atmosphäre sind vielfältig und kompliziert.

Insbesondere während der Schneeschmelze, wenn nicht mehr der gesamte Boden mit Schnee bedeckt ist, setzen lokale Prozesse ein, die die Schmelze verstärken oder vermindern können.

Winterlicher Austausch zwischen Schneedecke und Atmosphäre

Frischer Schnee strahlt einen hohen Anteil (bis zu 95 %) der einfallenden kurzwelligen Energie wieder zurück in die Atmosphäre. Keine andere natürliche Oberfläche hat eine so hohe Albedo. Auch wenn der reflektierte Anteil mit dem Schneealter abnimmt, sind kalte Lufttemperaturen über Schnee trotzdem mit seiner hohen Albedo verknüpft. Gleichzeitig strahlt Schnee auch sehr wirkungsvoll langwellige Strahlung ab. In klaren Nächten führt das zu sehr tiefen Temperaturen der Schneeoberfläche, da es kaum Wolken in der Atmosphäre hat, die Energie zur Erde zurück reflektieren.

Die vergleichsweise niedrigen Temperaturen an der Schneeoberfläche haben einen indirekten Effekt: in der Regel ist der turbulente Fluss latenter Wärme (also der Energie, die durch Wasserdampf in der Luft gebunden ist) über Schnee klein und ändert im Tagesverlauf oft sein Vorzeichen. Während des Tages zeigt der Fluss meist vom Schnee weg und kühlt so die Oberfläche durch Sublimation ab. In der Nacht zeigt der Fluss häufig von der Luft zur Oberfläche hin. Ist die Luft feucht genug, fällt die Feuchte durch das Abkühlen aus und resublimiert zu Oberflächenreifkristallen.

Eine wichtige Ausnahme bilden Situationen mit warmen, gesättigten Luftmassen, die über eine Schneeoberfläche herangetragen werden, z.B. wenn Regen auf den Schnee fällt. In solchen Situationen wird sehr viel zusätzliche Feuchte an der relativ kalten (0°C) Schneeoberfläche kondensiert und dabei zusätzliche Schmelzenergie angeliefert.

Vor allem nachts, wenn die Schneeoberfläche stark auskühlt, stellt sich ein positiver Temperaturgradient über der Schneedecke ein (Luft ist wärmer als der Schnee). Dies bewirkt einen turbulenten sensiblen Wärmestrom zur Schneedecke. Damit kommt es zu einer Erwärmung der Schneedecke und einem Entgegenwirken der Abkühlung durch Ausstrahlung. Da die turbulenten Flüsse eine Funktion des mittleren Windes sind, ist die Erwärmung der Schneedecke besonders hoch wenn der Wind stark ist.

Besonderheiten der Energiebilanz der Schneedecke während der Schmelzphase

Wenn im Frühling die Lufttemperaturen über den Gefrierpunkt steigen und die Oberflächentemperatur den Schmelzpunkt erreicht, stellt sich eine stabile atmosphärische Schichtung über dem Schnee ein. Bei geringer Windgeschwindigkeit kann es innerhalb der stabilen Schichtung zu einer Entkopplung der bodennahen Schichten von der Hauptströmung und dadurch zu einer starken Unterdrückung des turbulenten Wärmeaustauschs nahe an der Oberfläche kommen. Aus ersten Studien schliessen wir, dass derartige Phänomene der Grund für eine lokal verminderte Schneeschmelze sind und zu einem Überdauern von einzelnen Schneeflecken im Frühjahr oder sogar zu ganzjährigen Schneeflecken im Hochgebirge führen.
In der Regel dominiert Strahlung die Energiebilanz über Schnee, dennoch können in wind-exponierten Gebieten turbulente fühlbare Wärmeflüsse deutlich zur Schneeschmelze beitragen. Wenn die geschlossene Schneedecke im Frühjahr allmählich ausapert, ändert sich zudem die Energiebilanz. Schneefreie und schneebedeckte Flächen werden unterschiedlich erwärmt. Dabei führt der Transport warmer Luft von aperen zu schneebedeckten Flächen zu einem lokal erhöhtem Wärmetransport in die Schneedecke und zu höheren Schmelzraten an den dem Wind zugewandten Rändern der Schneeflächen.

Zudem können grosse Schneeflecken das lokale Windsystem prägen. Mit einem
Atmosphärenmodell konnten wir zeigen, dass grössere Schneeflächen bei Windstille oder bei geringem Wind die bodennahen Luftschichten stark auskühlen. So stark, dass kleinräumige katabatische Windsysteme entstehen können (Mott et al., 2015). Dadurch nimmt die bodennahe Windgeschwindigkeit zu und der turbulente sensible Wärmeaustausch wird während dieser Wetterlagen erhöht. Nimmt der Grad der Schneebedeckung ab, so wird auch der Einfluss katabatischer Windsysteme auf den mittleren Wärmeaustausch in die Schneedecke merklich kleiner.

Dischma-Experiment

Im Rahmen des Dischma-Experiments messen und quantifizieren wir die oben vorgestellten Prozesse. Um die Energiebilanz und die Interaktion der Schneedecke mit der angrenzenden Atmosphäre besser zu verstehen, bearbeiten wir folgende Forschungsfragen:

  • Wie viel Energie wird in Form von sensibler Wärme von schneefreien Flächen zum Schnee transportiert? Und wie verändert sich dies in Abhängigkeit der Schneebedeckung?
  • Wie verändert sich der turbulente Wärmefluss über dem Schnee durch die atmosphärische Stabilität?
  • Welche komplexen Windsysteme entstehen durch das gleichzeitige Auftreten von Hangab- und Hangaufwinden und wie beeinflussen diese die Energiebilanz der Schneedecke?

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