Schnee oder Pflanze

Maschinelles Lernen hilft Forschenden, mit Wetterstationen Folgen des Klimawandels für das Wachstum der alpinen Vegetation zu untersuchen.

Sechs Tage früher als 1998, am 14. Juni statt am 20. Juni, beginnen in den höheren Lagen der Alpen die Pflanzen im Durchschnitt zu wachsen. Michael Zehnder, Biologe am SLF, erklärt das mit dem Klimawandel und den stark steigenden Durchschnittstemperaturen in der Bergregion. Auch die Wachstumsrate und der Punkt des maximalen Wachstums haben sich durch den wärmeren Bergfrühling in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert.

Untersucht hat er das mit Hilfe der Wetterstationen des Interkantonalen Mess- und Informationssystems IMIS. Etwa 190 Stationen messen seit Ende der 1990er Jahre im Halbstundentakt zahlreiche Wetterdaten wie Windgeschwindigkeit und Temperatur, zwei Drittel davon auch die Schneehöhe. Bund, Kantone, Gemeinden und weitere Interessengruppen tragen dieses schweizweite Projekt, das SLF leitet es und wertet die Daten aus.

Das Ultraschallsignal des Schneehöhensensors misst nebst Schnee die Grösse eines jeden Objekts unter dem Sensor. Das macht Zehnder sich zu Nutze: «Über das Schneehöhensignal können wir, ohne selbst vor Ort zu sein, das Pflanzenwachstum im Sommer verfolgen und beobachten, wie sich dieses über die Jahre verändert.»

Durchtrainierte Algorithmen

Es sei denn, es schneit. Das kommt auch im Sommer häufiger vor, denn die Stationen stehen im gesamten Schweizer Alpenraum, in der Regel oberhalb der Waldgrenze zwischen 1800 und 3000 Metern. Dann helfen Algorithmen, zu unterscheiden, ob die Sensoren Schnee oder Gras messen. Denn die Stationen selbst können das nicht.

Jan Svoboda, Experte für maschinelles Lernen (ML), hat dafür in Zusammenarbeit mit dem Swiss Data Science Center (SDSC) ein Modell mit zahlreichen Daten trainiert. «Durch die Verknüpfung mit anderen Sensoren der Messstationen können die Algorithmen Schnee von Pflanzen separieren», erklärt er. Beispielsweise verlaufen die Temperaturen von Boden und Luft an sommerlichen Tagen parallel bei weit über Null Grad. Eine Schneedecke hingegen hat immer maximal null Grad, wohingegen die Luft darüber durchaus schwankt, auch im Bereich von Plus-Graden. Die Algorithmen haben solche Zusammenhänge gelernt.

Die Höhe der Pflanzen mit Hilfe der IMIS-Stationen zu messen, ist nicht neu, sagt Zehnder: «Aber mit dem neuen ML-Ansatz sind unsere Ergebnisse genauer.» Das spart Zeit beim nach wie vor erforderlichen Nachjustieren von Hand.

Früheres Wachstum

Allerdings hat das System Grenzen. «An Stationen, die zu weit oben stehen, ist die Vegetation zu kleinwüchsig, um das Wachstum verlässlich zu messen», schränkt der Biologe ein. Zudem unterscheidet der Sensor nicht zwischen Pflanzenarten. Zehnder will daher diesen Sommer die Vegetation vor Ort erneut erfassen und so untersuchen, ob neue oder andere Arten zum veränderten Wachstum beitragen.

Interessant ist, dass zwar die Wachstumsphase der Pflanzen früher beginnt als noch vor 25 Jahren. Das Ausapern hingegen läuft an denselben Orten aber im Durchschnitt nach wie vor zur gleichen Zeit ab. «Das bedeutet, die Pflanzen benötigen nach dem Verschwinden der Schneedecke weniger Zeit, um auszutreiben», sagt Zehnder.

Dieser Artikel erschien zuerst am 25. Juni 2024 in der Davoser Zeitung.

Kontakt

Copyright

WSL und SLF stellen Bild- und Tonmaterial zur Verwendung im Rahmen von Pressebeiträgen im Zusammenhang mit dieser Medienmitteilung kostenfrei zur Verfügung. Eine Übernahme dieses Materials in Bild-, Ton- und/oder Videodatenbanken und ein Verkauf des Materials durch Dritte sind nicht gestattet.