Der Geist des Gletschers

SLF-Doktorandin Patricia Asemann schreibt über ihre Arbeit auf dem Silvrettagletscher, schmelzendes Eis, Fallwinde und Nudeln mit Pesto.

“Dancing in the moonlight” und Totos “Africa” tönen aus den Lautsprechern unserer Handys, während wir im Rhythmus der Musik den Silvrettagletscher hinaufsteigen. Die Aussicht auf die umliegenden Berge ist wunderschön, aber unsere Blicke sind stur auf das nächste Stück steilen, buckligen und etwas dreckigen Eises vor uns gerichtet, auf das wir unsere Steigeisen setzen. Eigentlich macht es ja Spaß, auf Gletschern herumzulaufen – aber wenn es gerade das zigste Mal innerhalb einer Woche ist, wird es irgendwann etwas eintönig.

Wir sind jetzt für zwei Wochen hier, um das Mikroklima auf dem Gletscher zu erforschen. Im Sommer ist es meist sehr charakteristisch: Während die umliegenden Felswände schnell von der Sonne aufgewärmt werden und dann die sie umgebende Luft erwärmen, kühlt die eisige Gletscheroberfläche die über ihr liegende Luft. Die dabei entstehenden Temperatur- und Druckunterschiede sorgen für einen kalten Fallwind – den “Gletscherwind”, in manchen Kulturen auch “Geist des Gletschers” genannt – der hangabwärts in Richtung der Gletscherzunge fließt. Auf der einen Seite hilft dieser Wind, die Gletscheroberfläche kühl zu halten und damit die Schmelzrate des Eises zu reduzieren. Auf der anderen Seite kann die generelle Erwärmung der Atmosphäre durch den Klimawandel auch dazu führen, dass das Mikroklima des Gletschers öfters gestört und damit das Gletscherschmelzen weiter angekurbelt wird, beispielsweise durch warme Winde, die seitlich auf das Eis vordringen.

Die Oberfläche schmilzt uns unter den Füssen weg

Unser Messaufbau besteht aus Messstationen, die zwanzig Mal pro Sekunde die Windgeschwindigkeit auf zwei Höhen über der Eisoberfläche messen, außerdem große, weiße Leinwände aus Vlies, auf denen wir mithilfe von Infrarotkameras das Temperaturprofil dicht über der Gletscheroberfläche räumlich und zeitlich aufgelöst aufnehmen können (darüber habt ihr vielleicht von Michi Haugeneder schon gehört). Außerdem fotografieren wir manchmal die Regionen oberhalb der Stationen mit einer kleinen Drohne, um später genauere Informationen über die Oberflächenrauigkeit zu erhalten. Das klingt alles erstmal recht unkompliziert, wird durch den Untergrund allerdings schnell zur Herausforderung. Denn alle diese Aufbauten stehen auf einer Oberfläche, die nicht nur extrem rutschig ist, sondern uns zusätzlich unter den Füssen wegschmilzt. Daher müssen die Positionen der Dreibeine, der Loggerboxen und der Solarpanels täglich geprüft werden, und vor allem müssen die Eisschrauben, die die Screens (mehr oder weniger) in Position halten, ständig neu gesetzt werden.

Nur weil etwas gestern funktioniert hat, bedeutet das nicht, dass es heute auch funktioniert

Auf der Karte wirkt der Silvrettagletscher nicht besonders groß. Und unsere drei Messstationen befinden sich lediglich auf der unteren Hälfte des Gletschers. Allerdings lässt die kleinskalige, zweidimensionale Natur einer Karte einen leicht unterschätzen, wie anstrengend es sein kann, Ausrüstung (oder auch nur sich selbst) Tag für Tag hin und her über das Eis zu tragen. Das Erste, was wir gelernt haben: Alles dauert zehnmal so lange und ist zehnmal so anstrengend wie gedacht.

Da das gerade die erste Feldkampagne sowohl für Max als auch für mich ist, ist das nur eines von vielen Dingen, die wir in den vergangenen Wochen gelernt haben. Wir hatten erwartet, vor allem etwas über das Mikroklima des Gletschers zu lernen, über die Struktur des kalten Fallwinds, der den Hang hinabzieht, wo und wie Turbulenz generiert wird und wie viel Energie genau zwischen der Atmosphäre und der Gletscheroberfläche ausgetauscht wird. Bisher haben wir vor allem gelernt: Nur weil etwas gestern funktioniert hat, bedeutet das nicht, dass es heute auch funktioniert; nichts ist wirklich wasserdicht; und wir sollten unsere Erwartungen deutlich herunterschrauben.

Nächstes Jahr geht's weiter

Wir haben Glück, dass wir nahe genug an der Zivilisation sind, um regelmäßig Besucher aus Klosters auf dem Gletscher zu empfangen, die uns mit Snacks versorgen (wir haben stark unterschätzt, wie viel Nudeln mit Pesto wir zu zweit in zwei Wochen konsumieren würden) und damit die Stimmung oben halten. Außerdem sind wir froh, dass wir, anders als bei der Kampagne auf dem Hintereisferner vergangenes Jahr, nicht im Zelt auf dem Gletscher schlafen müssen, sondern gemütliche Betten in der Silvrettahütte beziehen durften.

Auch wenn wir in einer Woche vielleicht mit nicht ganz so vielen tollen Daten zurückkehren wie ursprünglich gehofft, haben wir doch unzählige wertvolle Erfahrungen gesammelt, die sich sicher bei unserer nächsten Feldkampagne auf dem Silvrettagletscher auszahlen werden. Nächstes Jahr wollen wir das Mikroklima des Gletschers während der Schneeschmelze untersuchen: Während sich die Oberfläche des Gletschers von schneebedeckt zu blankem Eis wandelt, wie reagiert der Gletscherwind darauf? Aber jetzt haben wir erstmal noch eine Woche, um das bisher Gelernte noch in die Tat umzusetzen und um den Geist des Gletschers noch weiter zu genießen.

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