Viel Neuschnee auf schwachen Altschnee: grosser Lawinenzyklus und viele Lawinenunfälle ¶
Am Samstag endete ein Grossschneefall, der einzelnen Stationen im Rheintal 3-Tages Neuschneerekorde brachte. Der viele Neuschnee überlagerte eine ausgesprochen schwache Altschneeoberfläche, womit zu Beginn grossflächig grosse Lawinengefahr herrschte (Stufe 4). Mit dem schwachen Schneedeckenaufbau, einem erneuten Schneefall und danach Föhnsturm blieb die Lawinengefahr auch danach sehr angespannt. Es kam zu ausserordentlich vielen Lawinenunfällen, bei denen insgesamt 8 Freerider ihr Leben verloren.
Wetter ¶
Freitag, 15. Januar: Ende eines Grossschneefalls mit Neuschneerekorden ¶
Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Wie bereits an den Tagen zuvor, schneite es auch am Freitag anhaltend und intensiv. Nördlich einer Linie Rhone – Rhein, in Nordbünden und im Unterengadin fielen nochmals 30 bis 50 cm Schnee, am zentralen und östlichen Alpennordhang bis zu 80 cm. Der in den Tagen zuvor teils stürmische Nordwestwind flaute am Freitag ab. Die Schneefallgrenze war zuvor im Norden und Westen auf etwa 1200 m gestiegen und sank am Freitag wieder ab. Im Osten fiel der gesamte Niederschlag bis in tiefe Lagen als Schnee. Nur ganz im Süden war es im Schutze der Alpen teils sonnig und trocken.
Von Dienstag, 12. bis Freitag, 15. Januar kamen folgende Neuschneesummen zusammen (Abbildungen 1 und 2):
- Teile des östlichen Berner Oberlandes, zentraler und östlicher Alpennordhang, nördliches Goms, Nordbünden: 130 bis 200 cm
- übrige Gebiete des Alpennordhanges, des nördlichen Oberwallis und des Gotthardgebiets, nördliches Mittelbünden, Unterengadin: 100 bis 130 cm
- sonst verbreitet 50 bis 100 cm; im Tessin ohne Gotthardgebiet, im Moesano und im Oberengadin inkl. angrenzende Südtäler weniger.
Die oben beschriebenen Schneefälle waren ein sehr seltenes Ereignis. Aussergewöhnlich waren vor allem die 3-Tages Neuschneesummen von Mittwoch 13. bis Freitag, 15. Januar in tiefen und mittleren Lagen. Die grössten Summen von rund 150 cm wurden dabei im oberen Prättigau, im hinteren Glarnerland und im Obergoms gemessen. Am extremsten war das Ereignis aber im Raum Chur - untere Surselva mit Jährlichkeiten von mehr als 100 Jahren. Das heisst, ein solches Ereignis wird dort statistisch gesehen seltener als ein Mal pro 100 Jahre erwartet. In Chur–Ems zum Beispiel wurden auf nur gerade 560 m in drei Tagen 82 cm Neuschnee gemessen – so viel wie noch nie an drei aufeinanderfolgenden Tagen – und das bei einer Messdauer von stolzen 134 Jahren (Tabelle 1). Auch an 15 weiteren Stationen wurden Jährlichkeiten von 20 und mehr Jahren berechnet. Alle diese Stationen liegen in Nord- und Mittelbünden, Liechtenstein und St. Gallen, und eine im Wallis (Ulrichen im Goms). Auch an einigen IMIS-Stationen gab es rekordhohe 3-Tages Neuschneesummen, vorwiegend am Alpennordhang.
Station | Höhe | Neuschnee Summe 3d | Rang | Messjahre | Jährlichkeit |
Chur-Ems (GR) | 560 m | 82 cm | 1 | 134 | > 100 |
Obersaxen (GR) | 1420 m | 125 cm | 1 | 70 | > 100 |
Siat (GR) | 1270 m | 146 cm | 1 | 69 | > 100 |
Malbun (FL) | 1610 m | 110 cm | 1 | 50 | 90 |
Valzeina (GR) | 1090 m | 139 cm | 1 | 36 | 75 |
Küblis (GR) | 839 m | 137 cm | 1 | 76 | 50 |
Pusserein (GR) | 940 m | 136 cm | 1 | 52 | 50 |
St. Antönien (GR) | 1510 m | 157 cm | 2 | 76 | 35 |
Flumserberg (SG) | 1310 m | 122 cm | 2 | 69 | 35 |
Ulrichen (VS) | 1345 m | 129 cm | 3 | 79 | 35 |
Tab. 1: 3-Tages Neuschneesummen am Freitagmorgen, 15. Januar 2021. Aufgelistet sind alle manuellen Messfelder mit maximalen 3-Tages Neuschneesummen (Rang 1), und zusätzlich solche mit Rängen 2 oder 3, falls die Jährlichkeit 30 Jahre überschreitet.
Seit diesen Schneefällen waren die Schneehöhen in grossen Teilen des Wallis nur noch leicht unterdurchschnittlich, sonst praktisch überall überdurchschnittlich, im Norden und Osten der Schweiz sowie im Jura sogar stark überdurchschnittlich. Einige Stationen erreichten während weniger Tage sogar die maximalen Schneehöhen für die entsprechenden Kalendertage.
Samstag, 16. bis Montag, 18. Januar: Zwischenhoch, dann nochmals Schnee bis in tiefe Lagen ¶
Nach einem sonnigen Samstag fielen bis am Montagmorgen im Norden weitere 30 bis 60 cm Schnee bis in tiefe Lagen (Abbildung 3). Der Wind blies in der Nacht auf Sonntag stark aus West, später meist mässig aus Nord. Ganz im Süden blieb es auch dieses Mal teils sonnig und trocken.
Dienstag, 19. bis Donnerstag, 21. Januar: aufkommender Föhnsturm ¶
Am Dienstag war es mit auffrischendem Westwind meist sonnig und zunehmend milder. Am Mittwoch drehte der Wind auf Süd und wurde stark bis stürmisch. Im Norden war es teils sonnig, und in den Tälern mit Föhn sehr mild. Im Süden war es stark bewölkt, und bis Donnerstagmittag fielen etwa 10 cm Schnee bis in tiefe Lagen.
Schneedecke und Lawinensituation ¶
Die einzige Konstante in dieser bewegten Berichtsperiode war die anhaltend hohe Lawinengefahr.
Viel Neuschnee auf schwachem Altschnee führt zu grossem Lawinenzyklus ¶
Von Mittwoch, 13. bis Samstag, 16. Januar erlebte die Schweiz den ersten grossen Lawinenzyklus dieses Winters (Abbildung 5). Dabei wurden an jedem von drei aufeinanderfolgenden Tagen mehr Lawinen registriert als am Spitzentag des vergangenen Winters (siehe Winterbericht 2019/20) . Ursache war der viele Neuschnee, welcher verbreitet auf eine schwache Altschneeoberfläche abgelagert wurde (siehe Wochenbericht vom 14. Januar). Im zentralen Wallis war die Ausgangslage noch schlimmer, dort war gleich die gesamte Altschneedecke ausgesprochen schwach.
Für Freitag wurde weiterhin verbreitet vor grosser Lawinengefahr (Stufe 4) gewarnt. Rückblickend wurde er zum Tag mit der bisher grössten Lawinenaktivität dieses Winters. Im Nordosten waren mit den anhaltend intensiven Schneefällen auch Verkehrswege betroffen (Abbildung 6), während im Westen und in Mittelbünden vor allem Wintersportler im freien Gelände akut gefährdet waren (Abbildung 7).
Auch in mittleren Lagen bestand die Altschneeoberfläche verbreitet aus kantig aufgebauten Kristallen, oft mit Oberflächenreif. Kaum gestört durch den hier oft nicht so starken Wind, wurde sie flächig eingeschneit und die Situation ebenfalls sehr ungünstig (Abbildung 8). Entsprechend wurde teils bereits ab 1600 m vor grosser Gefahr (Stufe 4) gewarnt, in den nördlichen Voralpen und im Jura sogar schon ab 1200 m vor erheblicher Gefahr (Stufe 3).
Abnahme der Lawinengefahr – oder doch nicht? ¶
Nach einem Grossschneefall nimmt die Lawinengefahr normalerweise rasch ab. Lawinen können zwar immer noch (sehr) gross anreissen, aber spontane Abgänge werden immer seltener.
Entsprechend wurde die Lawinengefahr auf Samstag, 16.Januar in einem Teil der Gebiete auf erheblich (Stufe 3) zurückgestuft. Sofort nach Publikation des Bulletins vom Freitagabend hagelte es schlechte Meldungen aus Nordbünden von Freeridern, die mit der Rückstufung nicht einverstanden waren. Mit den neuen Informationen wurde um 19 Uhr ein zusätzliches Lawinenbulletin herausgegeben, bei dem diese Gebiete wieder hinaufgestuft wurden auf Stufe 4, gross. Um solche unliebsamen Korrekturen überflüssig zu machen: bitte melde uns deine Beobachtungen aus dem Gelände - wenn irgend möglich vor 15 h. Herzlichen Dank!
In der Definition der Europäischen Gefahrenstufe ist nicht eindeutig, ob bei Stufe 4 spontane Lawinen nötig sind. Gemäss Interpretationshilfe des SLF dagegen sind für eine Stufe 4 entweder sehr grosse, oder dann "sehr viele mittlere und grosse spontane Lawinen" erforderlich. Beides war im Nachhinein betrachtet nicht gegeben, eine sehr hohe Auslösebereitschaft auch grosser Lawinen und damit eine akute Gefährdung der Wintersportler im ungesicherten Gelände aber schon. Damit scheint die Stufe 4 im Rückblick hier gerechtfertigt, wenn auch nicht zwingend. Dasselbe galt gebietsweise auch für das Unterwallis.
Vom Neu- zum Altschneeproblem ¶
Auch am Sonntag, 17. Januar blieb die Lawinengefahr kritisch, die Stufe 4 (gross) schien vorerst aber nirgends mehr gerechtfertigt. Mit neuen Schneefällen (Abbildung 3) wurde auf den Nachmittag aber im Text bereits wieder ein Anstieg auf die zweithöchste Stufe vorhergesagt, im Bulletin vom Sonntagabend dann auch auf der Gefahrenkarte gezeichnet.
Ab Dienstag, 19. Januar wurde die Gefahr nur noch mit Stufe 3 (erheblich) eingestuft, lag aber immer noch verbreitet in deren oberem Bereich. Weil die Schwachschicht unter dem Neuschnee aus kantig aufgebauten Kristallen oder Oberflächenreif bestand, erhöhte sich ihre Festigkeit nur sehr langsam. Die Bruchausbreitung über grosse Distanzen war immer noch möglich, und mit den dicken, darüberliegenden Schneeschichten (Slab) wurden Lawinen gefährlich gross (Abbildung 9). Bei der grossen Überlagerung und mit der zunehmenden Verfestigung des Slabs wurde in den Hauptniederschlagsgebieten eine Bruchinitiierung durch Wintersportler aber immer weniger wahrscheinlich. Leichter ging die Lawinenauslösung in den Niederschlagsrandgebieten des Wallis und Graubündens. Von dort wurden denn auch immer wieder Brüche aus dem Altschnee gemeldet.
Schneebrett im Schneebrett: von Bruchauslösung und Bruchausbreitung ¶
Um eine Schneebrettlawine auszulösen, braucht es zuerst einen Bruch (Initialbruch), der sich in der Folge ausbreitet. Unser Beobachter und Bergführer Franz Baumgartner hat in Adelboden (BE) einen interessanten Fall dazu dokumentiert (Abbildung 10):
"Bei unserer Ankunft war das leicht eingeschneite Schneebrett aus der letzten Schneefallperiode vom Vortag (gelbe Linie = Anriss altes Schneebrett) gut sichtbar. Dieses war in einer Schicht etwa 40 cm unterhalb der Schneeoberfläche abgegangen. Beim Suchen nach einer geeigneten Stelle zum Profilen, im flachen Gelände 50 m oberhalb des Anrisses, gab es ein gut hör- und spürbares Wumm. Erst die Staubwolke im Glögglital machte mich darauf aufmerksam, dass innerhalb des Anrissbereichs des ersten (gelben) Schneebrettes ein zweites Schneebrett abgegangen war (rote Linie = Anriss zweites Schneebrett). Dieses brach in den untersten Schichten in Bodennähe und hatte ein deutlich grösseres Volumen als das erste."
Wie konnte das geschehen?
- Die erste Schneebrettlawine ging vermutlich spontan ab. Auch wenn sich im Profil keine kantigen Körner finden, können Schwachschichten im Neuschnee kurzzeitig trotzdem sehr auslösefreudig sein.
- Tiefer in der Schneedecke muss schon damals die zweite Schwachschicht existiert haben. Die Belastung durch das erste Schneebrett reichte aber offenbar nicht aus, um in der tieferliegenden, zweiten Schwachschicht einen Bruch zu Initialisieren. Eine Bruchausbreitung wäre gegeben gewesen, wie sich am folgenden Tag zeigen sollte.
- Auf der Suche nach einem Profilort hat der Beobachter offensichtlich einen sehr ungünstigen Ort betreten. Vermutlich eine schneearme Stelle, wo die tiefe Schwachschicht so nahe an der Oberfläche lag, dass sein Gewicht für einen Initialbruch in dieser tiefen Schwachschicht ausreichte. Dieser zweite Bruch hat sich grossflächig ausgebreitet (siehe auch die Risse). Abgeglitten ist dann aber nur der Schnee im steilsten Hangbereich, und dieser war innerhalb der Gleitfläche der alten Lawine.
Triebschnee und Gleitschnee ¶
Am Mittwoch, 20. und am Donnerstag, 21. Januar verfrachtete der Föhn vor allem inneralpin und im Norden den lockeren Altschnee (Abbildung 4). Es entstanden störanfällige Triebschneeansammlungen.
In mittleren und tiefen Lagen gingen immer mehr Gleitschneelawinen ab. In den Hauptniederschlagsgebiete wurden diese teils gross (Abbildung 11).
Lawinenunfälle ¶
Vor allem am Anfang der Berichtsperiode waren einige Verkehrsverbindungen gesperrt und es kam auch zu kleineren Sachschäden durch Lawinen. Mit der anhaltend kritischen Lawinensituation kam es aber vor allem zu vielen Personenunfällen. Die dem Lawinenwarndienst gemeldeten 141 (!) Personenlawinen dieser Berichtsperiode waren wohl nur die Spitze des Eisbergs. Gerade bei Auslösungen, bei denen niemand erfasst wurde, ist von einer gewissen Dunkelziffer auszugehen. Oft waren die ausgelösten Lawinen gross (Abbildung 12). Auffallend ist zudem die Häufung der Auslösungen im Wallis und im Variantengelände einiger Skigebiete.
Der erste Schönwettertag nach einer Schneefallperiode ist besonders unfallträchtig. Dieses Mal fiel er erst noch auf einen Samstag. Damit waren sehr viele Wintersportler bei sehr kritischen Verhältnissen unterwegs. Die Folge waren 74 (!) gemeldeten Personenauslösungen am 16. Januar.
In dieser Berichtsperiode wurde bei 8 Lawinenauslösungen jeweils ein Freerider getötet, vier davon am Freitag und am Samstag in Gebieten mit Gefahrenstufe Stufe 4 (gross).
- 15.01. Niderbauen, Emmetten (NW)
- 16.01. Chlingenstock, Morschach (SZ)
- 16.01. Drostobel, Klosters-Serneus (GR)
- 16.01. Laub, Engelberg (OW)
- 17.01. Rochers de Naye, Veytaux (VD)
- 17.01. Gstaad, Saanen (BE)
- 18.01. Tête des Vaux, Val de Bagnes (VS)
- 18.01. Col des Gentianes, Val de Bagnes (VS)
Am Ende dieser Berichtsperiode war die Zwischenbilanz des Winters rabenschwarz. Die provisorischen Unfallzahlen lagen bei allen Kennwerten mehr als doppelt so hoch wie normalerweise an einem 21. Januar (in Klammer: Mittelwert der Winter 2001 bis 2020 bis zu diesem Datum):
- Unfälle: 90 (38)
- erfasste Personen: 129 (60)
- ganz verschüttet: 30 (13)
- getötet: 15 (7)
Bereits im Vorfeld war verschiedentlich vor potentiell vielen Lawinenunfällen in diesem Winter gewarnt worden. Wegen Corona könnten plötzlich Massen unerfahrener Skifahrer und Schneeschuhwanderer auf Tour gehen, und mangels Wissen und Erfahrung Unfälle verursachen. Inzwischen sind die vielen Unfälle traurige Tatsache, und trotzdem hat sich diese Prophezeiung nur beschränkt bewahrheitet. Betrachten wir die Todesfälle in dieser Berichtsperiode, so hat sich der langjährige Trend fortgesetzt, wonach bei akuter Lawinengefahr vor allem Freerider verunfallen. Skifahrer und Snowboarder also, die mit den Bahnen hoch- und abseits der gesicherten Pisten herunterfahren. Die Tourenfahrer hatten sich offensichtlich, trotz Corona, bei den aktuell kritischen Verhältnissen stärker zurückgehalten-, und sicher auch das eine oder andere Mal Glück gehabt.
Gefahrenentwicklung
Lawinenbulletins dieser Zeitperiode im Überblick.